Ich möchte hier nach und nach die yogischen Grundprinzipien vorstellen und komme heute zu Satya, der Wahrhaftigkeit.
Satya ist, das anzuerkennen, was ist.
Ich kann also nicht als Yogalehrer unterrichten, wenn ich „falsch“ bin und nur vorgebe, etwas oder jemand zu sein. Dazu gehört Arbeit an mir selbst, um zu erkennen, wer ich bin und das auch zu leben. Ich kann mich vor meine Schüler setzen und zum Beispiel vorgeben, in mir zu ruhen und alles über Philosophie zu wissen, dennoch werden sie mich durchschauen, bewusst oder unbewusst und es wird nicht gutgehen, zumindest nicht lange.
Dazu gehört auch der Widerspruch dessen, was ich vorgeben möchte zu sein, und dem, was ich bin oder manchmal bin.
Du kannst Yogi sein und trotzdem ab und an ein richtiges Arschloch.
Du kannst morgens meditieren und nachmittags schlecht über jemanden reden.
Du kannst auf der Party am Sonnabend den Vegetarier raushängen lassen und am Dienstag bei der Hähnchenbraterei anstehen.
Du kannst Nachhaltigkeit predigen und trotzdem bei H&M einkaufen.
Wenn Du ernsthaft Yoga übst, wirst du früher oder später auf diese Widersprüche stossen, was sehr schmerzlich sein kann und oft in Verdrängung mündet. Das heißt noch nicht, dass du gleich etwas daran ändern wirst, aber du hättest die Gelegenheit dazu und dass wird dir immer bewusster. Und lässt dich tatsächlich nach und nach der Wahrheit folgen wie eine Wünschelrute der Wasserader.
Diese Kraft hat Yoga. Ganz und gar ohne Lügendetektor. Und zwar durch die Asanapraxis ebenso wie durch Meditation und Achtsamkeitstraining.
Wahrhaftigkeit ist ein wunderbares moralisches Grundprinzip, weil es so einfach und klar ist. Lügen sind unglaublich anstrengend, es ist mühsam, diese aufrecht zu erhalten, es ist sehr ermüdend, sich ein falsches Ich anzuziehen jeden Morgen, bevor man das Haus verlässt, und man wird davon krank.
Ich selbst weiß das sehr gut, ist es mir doch auch so gegangen und irgendwie merke ich, dass es mir gerade wieder so zu gehen beginnt.
Mit Yoga selbständig sein in dieser Region und in diesen Zeiten ist gerade unglaublich schwer.
Yoga sollte auch kein Kampf sein, war es aber, viel zu lange, das macht mir Sorgen und lässt meine Gedanken immer nur noch darum kreisen, wie ich den nächsten Monat schaffe. Gleichzeitig wird erwartet, und klar, am meisten von mir selbst, dass ich immer positiv, fröhlich, mutig und mit immer neuen Projekten freudvoll in die Blase passe, in der Yogalehrer so gerne verortet werden.
Für mich bedeutet Wahrhaftigkeit im Moment, mir einzugestehen, dass ich als Yogalehrer in Ranis keine Chance habe und wohl nie hatte, zumindest hauptselbständig. Dass ich weitermache, aber unter anderen Bedingungen.
Die Zeit, die es dauert, bis der eine oder andere seine Scheu überwunden hat und das Interesse an Yoga größer ist als die Skepsis vor Neuem oder vor „der Neuen“, ist zu lang und es ist fast unmöglich, das so nebenbei abzuwettern.
Wahrhaftigkeit heißt zu erkennen, dass in den letzten Monaten so eine Art schwarze Wolke über mir geschwebt hat, die alles, was ich angefangen habe, scheitern lässt.
Aber auch den Zeitpunkt zu bemerken, an dem mir klar geworden ist, dass meine Ehe gerade zerbricht an dem ewigen Kampf, dem Verschwimmen von Arbeit und Privatleben, dem überhand Nehmen des strengen Teils in mir, der sich getrieben fühlt und verzweifelt und der sich leider eben auch oft wie ein Arschloch benimmt, war auch der Zeitpunkt, an dem ich die innere Ruhe dessen gespürt habe, was mir wirklich wichtig ist im Leben.
Nämlich die Liebe und die Neugier. Mein Mann Mike. Meine Yogafrauen um mich herum. Freunde und Weggefährten. Natur. Meditation. Mein Lehrer André und der Austausch mit ihm.
Tatsächlich bin ich vor zwei Jahren aus dem Hamsterrad ausgestiegen, um in ein anderes Hamsterrad einzusteigen, eigentlich in ein viel größeres.
Zeitweise war ich mir selber eine schlimmere Chefin als die schlimmste Chefin, die ich je hatte. Krass eigentlich, was da so abläuft.
Jetzt steige ich um, zurück in das alte Hamsterrad, und stelle das kleiner gewordene Rad der Selbständigkeit daneben, damit ich immer mal hin und herspringen kann.
In der vergangenen Woche war ich in einem Kloster meditieren, so eine ähnliche Auszeit wie im letzten Jahr. Die vielen Minuten der Stille und der Atembeobachtung, der Achtsamkeit, der Körperwahrnehmung, der Gemeinschaft, aber auch des (sehr) wilden Tanzens, des Erlebens der gesamten Bandbreite an Gefühlen und die schmerzliche aber auch befreiende Einsicht, dass alles vergeht und dafür Neues entsteht, haben wieder den Weg bereitet für ein neues Kapitel.
Heute habe ich den Arbeitsvertrag unterschrieben, der mich zurück ins Hamsterrad bringt. Und ich freue mich so sehr darüber, das hätte ich vor zwei Jahren nie für möglich gehalten. Das verschafft mir die finanzielle Sicherheit, die mich in Ruhe mein Yoga weiter verfolgen lässt. Ohne Druck und ohne Überlebenskampf.
Das heißt auch zurück ins Leben außerhalb der Blase, Reibung mit Kunden, Kollegen und Vorgesetzten und wieder Anpassen an Regeln und Dinge zu tun, die ich nicht so stark hinterfrage.
Mich unterzuordnen, aber auch wieder den halben Tag Englisch und Niederländisch zu sprechen, vielleicht auch Französisch. Cool :)
Jetzt bin ich wahrhaft einen Schritt weiter gekommen auf meinem Weg mit den vielen Umwegen, den falschen Abzweigungen und der ewigen Straßensperren wie Corona, Energiekosten, Preiserhöhungen und Sommerloch.
Yoga aber war immer da und wird immer da sein. Yoga zu unterrichten wird immer Teil meines Lebens sein.
Gerade in diesem Moment bin ich wahrhaft frei.